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Das Konstrukt von ›Orient‹ und ›Okzident‹ – ein ungleiches Paar? (Teil II)

(Beitragsbildkünstler:in: Marieluise)

Was bedeuten die Begriffe Orient und Okzident? Sind sie ausgedacht oder handelt es sich um reale Phänomene? Welche Probleme bringt das Begriffspaar und seine Verwendung mit sich?

Dies sind nur einige der Fragen, die schon länger in der Geisteswissenschaft verhandelt werden. Auch die Archäologie spielt bei der Diskussion, die allgemein in die Tradition postkolonialistischer Diskurse einzuordnen ist, eine große Rolle. Denn insbesondere die frühe Archäologie hat zu der Entwicklung des Begriffspaares Orient und Okzident beigetragen und die europäische Sichtweise auf Westasien und Nordafrika geprägt. Die Diskussion ist noch lang nicht abgeschlossen, sondern erfährt aktuell wieder eine neue Dynamik – diese zeigt sich z. B. bei den Debatten um die Rückgabe von Kulturgütern oder um die Umbenennung von Instituten und Studiengängen.

Daher möchten wir mit einer kleinen Artikelreihe zu dieser Debatte beitragen. Wir sind selbstverständlich nicht die ersten Archäolog:innen, die sich mit dem Thema befassen, und wir können auch nur einzelne Aspekte beleuchten. Wir haben uns also nicht vorgenommen, neue Positionen oder Argumente herauszuarbeiten. Stattdessen sollen die Artikel (Teil I, Teil III) dazu dienen, das Thema verständlich zu erklären und die Problemfelder aufzuzeigen, damit mehr Menschen an den entsprechenden Diskussionen teilhaben können.

Anmerkung: Begriffe wie Achämeniden oder Griechen lassen wir im maskulinen Plural. Es handelt sich um Begriffe, die in der Forschung und Gesellschaft verwendet werden, wobei sie eigentlich immer auf eine nicht konkrete Gesamtheit oder Gruppe von Menschen abzielt. Außerdem sind die Begriffe selbstverständlich mit verschiedensten Vorstellungen aufgeladen, an denen wir uns in den Beiträgen orientiert haben. Nachteilig ist dabei, dass die Frauen sprachlich nicht in dem Wort beinhaltet sind – wenn es jedoch um spezifische Geschlechterfragen geht, werden wir selbstverständlich die jeweiligen richtigen Formen verwenden. Leider ist der männliche Plural ebenfalls insofern passend, als dass sowohl die antiken Quellen als auch sehr viele Forschende der letzten Jahrhunderte ihren Fokus vor allem auf die Männer gelegt haben.

Antike

(Autor:in: Julius)

Die Begriffe Orient und Okzident beschreiben heute eine kulturelle Dichotomie, die in den Diskursen seit dem 18. Jh. meist mit räumlicher Zuordnung bzw. nationalen Entitäten verbunden sind. Dabei wird vor allem die Abgrenzung der mit den Begriffen assoziierten Räume hervorgehoben. Aus einer europäischen Perspektive war die Aufwertung des ›Abendlandes‹ zumeist auch mit der pejorativen Abwertung des ›Morgenlandes‹ verbunden. Mit der Bedeutung der Begriffe und ihrer Forschungsgeschichte haben wir uns im ersten Teil unserer Reihe auseinandergesetzt. Dabei konnte gezeigt werden, dass im Diskurs zur Dichotomie von Orient/Okzident, Ost/West und Abendland/Morgenland immer wieder auch  auf die ›historische Tradition‹ der Unterscheidung Bezug genommen wurde.

Ziel der folgenden Ausführungen ist es aufzuzeigen, inwieweit sich das dem Orient/Okzident-Diskurs zugrunde liegende Konzept tatsächlich bis in die griechisch-römische Zeit zurückverfolgen lässt und welche Diskurse zu der Thematik nicht zuletzt in der Antike tatsächlich geführt worden sind.

Mit der Unterscheidung Orient/Okzident werden oft die Auseinandersetzungen der Perserkriege zwischen Griechen und Perser herangeführt. Dabei trug in jüngster Zeit die Verfilmung 300 zur Popularisierung des Gegenstands bei. Und tatsächlich lässt sich die im Film dargestellte Erzählung, welche die sog. Perserkriege zu einem ›Kulturkampf‹ stilisierten, Reflexe davon begegnen auch etwa in der materiellen Kultur, wie der Vasenmalerei zu beobachten, wie der Kampf der Griechen gegen die Perser zum Teil gewaltvoll im Bild inszeniert wird. Jedoch zeigt gerade die Thematisierung der sog. Perserkriege, wie kompliziert und differenziert das Quellenmaterial zu beurteilen ist und keineswegs auf die Griechen/Perser oder analog Orient/Okzident herunterzubrechen ist.

Zunächst ist für den folgenden Kontext herauszustellen, dass im antiken griechischen Selbstverständnis jeder Nichtgrieche grundsätzlich als ›Barbar‹ galt. Des Weiteren müssen die sog. Perserkriege auch kurz in ihren historischen Kontext eingeordnet werden: Dem Feldzug der Achämeniden voraus ging der sog. Ionische Aufstand, bei dem die griechischen Städte an der kleinasiatischen Westküste gegen die achämenidische Oberherrschaft revoltierten, gleichwohl 494 v. Chr. schließlich unterlagen. Milet gilt heute in der Forschung als Geburtsstätte ›westlicher‹ Philosophie und Wissenschaft (der Begriff ›westlich‹ sei hier bewusst genutzt, um die Dichotomie und Ambiguität im historischen Kontext zu unterstreichen), wobei bedeutende Protagonisten wie Anaximenes und Hekataios in der zweiten Hälfte des 6. Jhs. v. Chr. unter achämenidischer Herrschaft wirkten.

Der Feldzug der Perser gegen das griechische Festland galt als Racheakt gegen die Griechen, wobei wir hier die Homogenisierung der Griechen von außen beobachten können. Die Spannungen zwischen den griechischen Städten bei der Zurückschlagung der Achämeniden, aber auch mit diesen zusammenarbeitende Poleis, zeigen, wie inhomogen die griechischen Stadtstaaten waren. So nahm beispielsweise Athen eine bedeutende Rolle bei der ›Verteidigung Griechenlands‹ ein, wohingegen Poleis auf der Peloponnes sich neutral gegenüber der achämenidischen Streitkraft verhielt.

Ferner diente die Abwehr der Achämeniden in ihrer (politischen) Beurteilung, insbesondere von einem späteren historischen Standpunkt, als einende Erzählung der Griechen, welche wiederum auch politisch vor der Hegemonie Athens im attisch-delischen Seebund zu denken ist. Dies mag nicht zuletzt daran gelegen haben, dass sich die Athener*innen in der auf die sog. Perserkriege folgenden Klassischen Zeit als politische wie auch kulturelle Führungsmacht der Griechen verstanden.

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Athen-Akropolis: Die Errichtung der heute (wieder) zu sehenden Gebäude erfolgte nach der Zerstörung der früheren Bauten durch die Achämeniden. Zur Finanzierung wurden auch Gelder des attisch-delischen Seebundes verwendet. (Wikimedia)

Die Instrumentalisierung der Erzählung von den sog. Perserkriegen innerhalb einer politisch fraktionierten griechischen Stadt- und Staatenwelt ist dann wieder unter den makedonischen Königen Philipp II. und Alexander dem Großen zu beobachten, die ihren Eroberungsfeldzug als Rache für die Zerstörung Athens durch die Achämeniden knapp 150 Jahre zuvor propagierten.

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Alexander der Große (Mosaik aus dem Haus des Faun, Pompeji) (Wikimedia)

Wie kompliziert die Okzident/Orient-Dichotomie in der Antike gleichwohl war, verdeutlicht das Beispiel der Attaliden gegen die Galater im ausgehenden 3.Jh./frühen 2. Jh. v. Chr. Das Königsgeschlecht Pergamons inszenierte nun die Schlachten gegen gallische Stämme als Abwehrkampf der Griechen gegen die ›Barbaren‹ aus dem ›Osten‹. Diese Erzählung, die auch in die Propagierung Pergamons als neues Athen eingebunden war, fand wohl auch in der Gigantomachie des Pergamonfries eine monumentale Ausdrucksweise. Wie wenig dabei, entgegen der Verwendung im heutigen Sprachgebrauch, eine tatsächlich ›ethnische‹ Implikation verbunden war, zeigt sich hier: die ursprünglich aus Mitteleuropa stammenden gallischen Gruppen und Stammesverbände siedelten, nachdem sie zunächst als Söldner nach Kleinasien kamen, auf der phrygischen Hochebene, der späteren römischen Provinz Galatia. Bereits knapp 2 Generationen später konnten sie problemlos zugunsten der politischen Inszenierung als ›östliche‹ Barbaren charakterisiert werden.

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Blick auf das Rostfundament des Pergamonaltars; Akropolis Pergamon (modernes Bergama). (Wikimedia)

Das Bild der Verteidigung Athens gegen ›Barbaren‹ aus dem ›Osten‹ blieb die gesamte Antike wirkmächtig, so dass es auch noch in römischer Zeit gegen die Parther mobilisiert werden konnte. So gab Rom wie auch die phrygische Stadt Ancyra in der Kaiserzeit Münzen aus, welche Hephaistos bei der Herstellung einer Blitzwaffe für Athena zeigen und ferner an die Kriegsvorbereitung gegen ihre Gegner erinnern sollen. Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die in der Antike zu identifizierende Orient/Okzident-Dichotomie vor allem auf Selbst- und Fremdzuschreibungen beruht, die insbesondere mit den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Athen und den Achämeniden im frühen 5. Jh. v. Chr., den sog. Perserkriegen, zu verbinden ist. Ihre politische Wirkmacht entfaltete die Erzählung von den Perserkriegen anschließend vor dem Hintergrund der Hegemonie Athens im attisch-delischen Seebund. Anschließend wurde das grundsätzliche Narrativ in verschiedenen Kontexten durch die gesamte Antike reproduziert und in verschiedenen Medien, sei es der Vasenmalerei, der Flächenkunst oder auch der Münzprägung, instrumentalisiert. Dabei ist jedoch eine konkrete ethnische oder lokale Festlegung ist nicht festzustellen. Vielmehr ging es um die Differenzierung der griechisch-römischen Oikumene von nicht-zugehörigen ›Barbaren‹, die zumeist in einem politischen Kontext erfolgte. Im Vergleich mit der heutigen politischen Dimension der Dichotomie ist nicht zuletzt festzustellen, dass versucht wurde die politische Auseinandersetzung als ›Kulturkampf‹ zu verklären, wie es uns die Gigantomachie des Pergamonaltars eindrücklich vor Augen führt.

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