Anmerkung: Wir haben uns bewusst dafür entschieden, bestimmte sprachliche Kennzeichnungen zu verwenden. Daher wird beispielsweise der „Gender-Stern“ (*) verwendet, um deutlich zu machen, dass nicht von einem binären Geschlechtersystem ausgegangen wird. Der „Gender-Stern“ (*) nach den Begriffen Frau (Frau*) und Mann (Mann*) wird hierbei eingesetzt, um aufzuzeigen, dass es sich um gesellschaftlich konstruierte Kategorien handelt, welche hier lediglich als Analysekategorien benutzt werden. Auf Sternchen hinter dem Begriff „Frauendarstellungen“ wird verzichtet, da es sich hierbei um eine Beschreibung in der Analyse von paläolithischen Darstellungen handelt.
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2. Beitrag: Geschlechtliche Zuordnung von paläolithischen Darstellungen
Nachdem im ersten Teil der Reihe die theoretische Grundlage gelegt wurde, werden wir in unserem zweiten Beitrag der Reihe weiter auf die altsteinzeitliche Darstellungen und ihre geschlechtliche Einordnung eingehen. Wie kann man menschliche Darstellungen von vor so vielen Jahrtausenden überhaupt geschlechtlich einordnen? Welche Kriterien gibt es für die geschlechtliche Einteilung von Figurinen? Welche Begriffe sollten vermieden werden und waren alle Figuren des Paläolithikums weiblich?
Welche Kriterien für die geschlechtliche Einteilung von Darstellungen gibt es?
Bei der geschlechtlichen Einteilung von Darstellungen wird versucht Merkmale zu finden, welche nach dem heutigen Verständnis von Geschlecht die Zugehörigkeit zu einer jeweiligen Geschlechterkategorie zeigen. Bei prähistorischen Statuetten stehen daher vor allem die äußerlichen physischen, bzw. biologischen Merkmale im Fokus. Der Prähistoriker und Gynäkologe J.-P. Durhard definiert einen Männlichkeits- und Weiblichkeitsindex, mit welchem anscheinend das Geschlecht einer Darstellung ermittelt werden kann. Die von ihm definierten Merkmale besitzen verschiedene Wertigkeiten, welche am Ende zusammengezählt werden können.
Männlichkeitsindex (I.M.):
1. Gesichtsbehaarung
2. breite oder dicke Brust oder Waffe/Konfrontation mit Tier
3. Tragen von einer Tiertrophäe
4. Penis
Weiblichkeitsindex (I.F.):
1. Schamdreieck
2. großes Becken und/oder Schmuck und/oder Gesäßvorsprung
3. großer schwangerer Bauch
4. Vulva und/oder Brust
Wenn der Index größer als 4 ist, gilt das Geschlecht als sicher bestimmt. Bei einem Wert von zwischen 2 und 4 ist das Geschlecht nur wahrscheinlich, und bei einem Wert kleiner als 2 gilt das Geschlecht als undefiniert (Duhard 1996, 27).
Dieser Index ist nach Miteinbeziehen der heutigen Geschlechtertheorie nicht mehr zutreffend. Der Ansatz zeigt weder eine Unterscheidung in biologisches Geschlecht und soziales Geschlecht, welche es zulassen würde, dass die biologischen Geschlechtsmerkmale, auf die sich der Index stützt, nicht mit dem sozialen Geschlecht übereinstimmen, noch bestehen Optionen für mehr Geschlechter als männlich und weiblich.
Wenn mit diesen Kriterien also gearbeitet wird, muss klar sein, dass die Identifizierung sehr subjektiv ist. Die Einordnung in eine Kategorie entsteht aus einem gesellschaftlichen Kontext. Der Blickpunkt und Lebenskontext der betrachtenden Person ist somit ausschlaggebend für die Identifizierung. Welches Geschlecht wir in Figuren sehen, spiegelt also mehr unsere eigene Lebenswelt wieder, als die des Paläolithikums.
Es bestehen also drei Umstände, auf welche bei der Untersuchung von Geschlecht an paläolithischen menschlichen Darstellungen geachtet werden muss. Zum einen die Tatsache, dass von biologischen Merkmalen nicht direkt auf das soziale Geschlecht geschlossen werden kann, zum anderen, dass es möglich ist, dass das Geschlecht in den damaligen Gesellschaften unterschiedlich und nicht binär aufgeteilt war. Der dritte Umstand ist, dass jede Betrachtung und Interpretation sehr subjektive Prozesse sind. Dies fällt vor allem bei den Diskussionen über das Geschlecht mancher mehrgeschlechtlichen Figuren auf, wo unterschiedliche Formen und Wölbungen, für verschiedene Personen etwas Unterschiedliches bedeuten.
All das muss bei der Analyse von menschlichen Darstellungen bedacht werden. Bevor jedoch auf die mehrgeschlechtlichen Figuren eingehen werden, sollen in diesem Teil der Reihe einige relevante Begriffe besprochen werden, welche in der Vergangenheit oft benutzt wurden, allerdings sehr problematisch sind.
Begrifflichkeiten
„Figur“/„Venus“
Die als weiblich bezeichneten Figuren des Jungpaläolithikums (ca. 40.000-10.000 Jahr vor heute), werden fast immer als “Venus” oder “Venusstatuetten” bezeichnet. Dieser Begriff hat Geschichte.
Die erste als weiblich angesprochene jungpaläolithische Darstellung wurde 1864 von dem Marquis de Vibraye in Laugerie-Basse in Frankreich gefunden. Sie wurde daraufhin die “Vénus impudique” (unbescheidene Venus) oder die “Vénus de Vibraye” bezeichnet. Dies geschah in Anlehnung an die Darstellungen der Venus der klassischen Antike, welche auch als “Venus pudique” (bescheidene Venus) bezeichnet wurde, da sie ihre Hände vor ihrem Genitalbereich hält. Die Figur aus Laugerie-Basse hingehen hat keinen Kopf, Füße, Arme und ihre Beine sind leicht voneinander getrennt und ihre Vulva ist durch einen Einschnitt gekennzeichnet.
Wie der Archäologe Randall White (2006) erklärt, liegt die spätere Nutzung des Begriffs für die paläolithischen Figuren allerdings nicht hauptsächlich an der Anlehnung der Figuren an die Antike, sondern an der Ähnlichkeit mancher Figuren mit der Sklavin Sarah Baartman, der sogenannten “Vénus hottentote”. Sie wurde aufgrund ihrer Steatopygie, dem medizinischen Ausdruck für einen starken Fettansatz am Steiß, im damaligen Frankreich noch über ihren Tod hinaus als Ausstellungsstück in Europa benutzt. Bis weit nach dem 1. Weltkrieg dominierten Überlegungen über die “Rasse” der Figuren die Interpretationen, während Themen wie Schönheit oder Fruchtbarkeit fast nie erwähnt wurden. (White 2006)
Der Begriff hat somit eine stark rassistische und kolonialistische Geschichte, was Grund genug dafür sein sollte, ihn nicht mehr als Beschreibung paläolithischer Figuren zu verwenden. Denn auch wenn heutzutage oft angenommen wird, das er vor allem in Verbindung zur Antike genutzt wurde, bleibt er auch heute noch ein stark weiblich und sexuell konnotierter Begriff (Nelson 1990; Kirkness 2011), wodurch unbelegte Vorannahmen über die Bedeutung und Nutzung der paläolithischen Figuren entstehen. Stattdessen kann der neutrale Begriff “Figur” oder “Figurine” verwendet werden, um vor allem bei der Beschreibung der Figuren wissenschaftlich zu bleiben.
„mehrgeschlechtlich“/„zweigeschlechtlich“
In der Literatur fällt bei geschlechtlich mehrdeutigen Figuren oft der Begriff „zweigeschlechtlich“. Nach Einbeziehen der Ergebnisse von Gender Theorie und Gender Archäologie wird allerdings klar, dass hierbei von einem binären Geschlechterverständnis der heutigen westlichen Welt ausgegangen wird, welches nicht so einfach auf die paläolithische Zeit übertragen werden sollte. Daher sollte anstelle von “zweigeschlechtlich” der Begriff „mehrgeschlechtlich“ benutzt werden. Dieser lässt zu, dass ein anderes Geschlechterverständnis vorliegt, als das westlich binär geprägte. Es muss also nicht, wie eventuell angenommen, bewiesen werden, dass eine Figur Anzeichen für mehr als zwei Geschlechter aufzeigt. Vielmehr müsste, um den Begriff „zweigeschlechtlich“ zu verwenden erst einmal bewiesen werden, dass die betreffende Gesellschaft ein binäres Verständnis von Geschlecht hat.
Problematik des Begriffes „Drittes Geschlecht“
Sowohl bei der Analyse von Intersexualität, Transsexualität oder auch Transgender in Gesellschaften wie auch bei der Ansprach geschlechtlich mehrdeutiger Figuren wird häufig der Begriff des „dritten Geschlechts“ oder „dritten Gender“ als eine anthropologische und soziologische Kategorie benutzt. Auch in der Archäologie fand dieser Begriff Anklang, um das Sex/Gender-System vergangener Gesellschaften zu erweitern. Nachdem der Begriff großen Erfolg hatte, ist er heutzutage größtenteils aus der Literatur verschwunden. Es ist dennoch nötig zu erklären, warum dieser Begriff problematisch war und nicht mehr zeitgemäß ist. Die Benutzung des Begriffes ist zwar ein Versuch, um mit den binären Kategorien von männlich und weiblich zu brechen, zeigt allerdings nicht deutlich genug, dass die zweiteilige Konzeption von Gender ein starres System ist, welches dem flexiblen und dynamischen Charakter von Gender nicht gerecht wird. Mit diesem Begriff wird erneut Variabilität in eine weitere statische, normative und stagnierende Kategorie eingeteilt, welche als universell und ahistorisch angesehen wird. Bevor man also eine weitere Kategorie aufmacht, sollte Geschlecht jedoch eher als eine Einheit benutzt werden, welche sich zwischen und innerhalb von Gesellschaften variabel und fließend verhält (Moral 2016, 804).
Sind alle paläolithischen Darstellungen weiblich?
Seit langer Zeit hält sich die Vorstellung, dass alle oder zumindest der absolute Großteil der paläolithischen Darstellungen weiblich ist. Bei der Betrachtung ihrer geschlechtlichen Einordnung in der Literatur fällt allerdings auf, dass die Identifizierung als weibliche Darstellung oft allein auf entsprechenden Interpretationen von geschwungenen Hüften und der Konnotation kurviger Körper mit der weiblichen Form basieren. Gleichzeitig werden als männlich identifizierbare Darstellungen wenig Bedeutung zugemessen oder sogar diskreditiert, also abgewertet. Auch geschlechtslose Darstellungen werden fast vollständig vernachlässigt, wobei Autor*innen wie beispielsweise L.D. McDermott (1996) soweit gehen, sie als unvollständige weibliche Figuren zu betiteln und somit die Möglichkeit der Existenz von geschlechtslosen Figuren mehr oder weniger ganz ausschließen. Auch der Prähistoriker J. Hahn vertritt die Ansicht, dass es im Jungpaläolithikum keine männlichen Darstellungen gibt, obwohl es Darstellungen mit biologisch als männlich bezeichneten Geschlechtsmerkmalen, wie einem Penis, existieren. Darüber hinaus besitzen auch manche anfangs als weiblich beschriebenen Darstellungen einen mehrgeschlechtlichen Charakter und lassen sich somit nicht problemlos einem einzigen Geschlecht zuordnen.
Die Annahme, dass der Großteil der menschlichen Darstellungen aus dem Jungpaläolithikum weiblich ist, wird durch verschiedene Untersuchungen in Frage gestellt. Analysen von von P. J. Ucko und A. Rosenfeld (1972) ergeben, dass nur 33 % der Statuetten als weiblich, 46 % als geschlechtlos und nur 1 % als männlich zu identifizieren sind. Auch M.-A. Dobres‘ Untersuchungen (1992) an 125 Figurinen zeigen, dass nur 47 % als eindeutig weiblich zu identifizieren sind. Es existieren also sehr viel mehr Figuren ohne deutlich identifizierbares Geschlecht, als in der Literatur der Anschein erweckt wird. R. Joyce meint hierzu sehr treffend, dass die entsprechende Literatur es oft schwieriger erscheinen lässt, das Geschlecht von menschlichen Knochen zu bestimmen als menschliche Darstellungen geschlechtlich einzuordnen. Dabei ist das Geschlecht bei anthropologischen Untersuchungen eher eine biologische Realität als bei menschlichen Darstellungen, bei welchen Geschlecht nur nach den jeweiligen kulturellen Konventionen dargestellt wird. Die starke Subjektivität, welche bei den unterschiedlichen Interpretationen verschiedener Wissenschaftler*innen und deren jeweiliger Agenda vorliegt, wird hier deutlich. Man sollte daher vor allem bei Statuetten mit großer Interpretationsdissonanz einen möglichst objektiven Blick behalten, ohne sich auf eine Meinung zu versteifen und die mögliche Mehrdeutigkeit akzeptieren und respektieren.
Nachdem diese grundlegenden Thematiken angesprochen wurden wird sich der nächste Teil unserer Reihe mit den mehrgeschlechtlichen Darstellungen beschäftigen. Was sind mehrgeschlechtlichen Darstellungen und welche gibt es? Wie wurden sie in der Literatur interpretiert und was bedeuten sie für die paläolithische Kunst?
Literatur:
- Antl-Weiser, Walpurga (2008). Die Frau von W. Die Venus von Willendorf, ihre Zeit und die Geschichte(n) um ihre Auffindung. Wien, Verl. des Naturhistorischen Museums Wien.
- Dewez, M. (1985). L‘ art mobilier paléolithique du Trou Magrite dans son contexte stratigraphique. Bull. Soc. roy. belge Anthrop. Préhist. (96), 117–133.
- Dobres, M.-A. (1992). Re-Considering Venus Figurines: A Feminist-Inspired Re-Analysis. In: A. S. Goldsmith/Garvie S./D. Selin et al. (Hg.). Ancient Images: Ancient Thought: The Archaeology of Ideology, 245–262.
- Duhard, Jean-Pierre (1991). The shape of Pleistocene women. Antiquity 65 (248), 552–561.
- Duhard, Jean-Pierre (1993). Upper Palaeolithic figures as a reflection of human morphology and social organization. Antiquity 67 (254), 83–91.
- Duhard, Jean-Pierre (1996). Réalisme de l’image masculine paléolithique. Grenoble, J. Millon.
- Hahn, Marieluise 2020. Die „Venus“ von Waldstetten und der Aspekt der Mehrgeschlechtlichkeit in der paläolithischen Kunst. Unpublizierte Bachelorarbeit. Universität Tübingen. Tübingen.
- Joyce, Rosemary A. (2008). Ancient bodies, ancient lives. Sex, gender, and archaeology. London, Thames & Hudson.
- Kirkness, Jennifer (2011). Upper Paleolithic Female Imagery: The Masculine Gaze, the Archaeological Gaze and the Tenets of the Archaeological Discipline. Totem: The University of Western Ontario Journal of Anthropology 7 (1).
- Lander, Louise Muriel (2005). From artifact to icon: an analysis of the Venus figurines in archaeological literature and contemporary culture. Durham thesis. Durham University.
- McDermott, LeRoy (1996). Self-Representation in Upper Paleolithic Female Figurines. Current Anthropology 37 (2), 227–275.
- Moral, Enrique (2016). Qu(e)erying Sex and Gender in Archaeology: a Critique of the “Third” and Other Sexual Categories. Journal of Archaeological Method and Theory 23 (3), 788–809.
- Nelson, Sarah M. (1990). Diversity of the Upper Paleolithic “Venus Figurines and Archeological Mythology”. Archeological Papers of the American Anthropological Association 2 (1), 11–22.
- Nowell, April/Chang, Melanie L. (2014). Science, the Media, and Interpretations of Upper Paleolithic Figurines. American Anthropologist 116 (3), 562–577.
- Regen, Adolf/Naak, Wolfgang/Fröhle, Simon/Wettengl, Stefan/Floss, Harald (2019). Eine Frauenfigur vom Typ Gönnersdorf aus der Magdalénien-Freilandfundstelle Waldstetten-Schlatt, Ostalbkreis, Baden-Württemberg. In: Harald Floss (Hg.). Das Magdalénien. Im Südwesten Deutschlands, im Elsass und in der Schweiz. Tübingen, Kerns Verlag.
- Ucko, P. J./Rosenfeld, A. (1972). Anthropomorphic Representations in Palaeolithic Art. Santander Symposium: Aetas del Symposium Internacional, 149–211.
- White, Randall (2002). Une nouvelle statuette phallo-féminine paléolithique : la « Vénus des Milandes » (commune de Castelnaud-la-Chapelle), Dordogne. Paleo 14, 177–198.
- White, Randall (2006). The Women of Brassempouy: A Century of Research and Interpretation. Journal of Archaeological Method and Theory 13 (4), 250–303.