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Mehrgeschlechtliche Darstellungen im Paläolithikum (Teil I)

Anmerkung: Wir haben uns bewusst dafür entschieden, bestimmte sprachliche Kennzeichnungen zu verwenden. Daher wird beispielsweise der „Gender-Stern“ (*) verwendet, um deutlich zu machen, dass nicht von einem binären Geschlechtersystem ausgegangen wird. Der „Gender-Stern“ (*) nach den Begriffen Frau (Frau*) und Mann (Mann*) wird hierbei eingesetzt, um aufzuzeigen, dass es sich um gesellschaftlich konstruierte Kategorien handelt, welche hier lediglich als Analysekategorien benutzt werden. Auf Sternchen hinter dem Begriff „Frauendarstellungen“ wird verzichtet, da es sich hierbei um eine Beschreibung in der Analyse von paläolithischen Darstellungen handelt.

1. Beitrag: Geschlechtertheorie in der Untersuchung von paläolithischen Figuren

Was sind mehrgeschlechtliche Darstellungen? Und was können sie uns über das Verständnis von Geschlecht im Paläolithikum sagen? Welche Problematiken gibt es bei der Untersuchung von Geschlecht im Paläolithikum? Welche Rolle sollten die Erkenntnisse der Geschlechtertheorie bei der Untersuchung von menschlichen Darstellungen im Paläolithikum einnehmen?

Das Ziel der Archäologie ist es vergangene Gesellschaften zu verstehen und anhand von materiellen Hinterlassenschaften Schlüsse auf ihre Lebensweise und Struktur zu ziehen. Es wird angenommen, dass ein direkter Zusammenhang zwischen den materiellen Hinterlassenschaften und der sozialen Identität einer Gesellschaft besteht. Materielle Hinterlassenschaften können soziale Aspekte, wie geschlechtliche Identität allerdings nur unvollständig widerspiegeln. Vor allem in der Steinzeit fallen direkte Aussagen über soziale Aspekte oft schwer. Eines dieser sozialen Aspekte ist das Geschlecht, welches ein sehr komplexes Themengebiet ist. Ein Anhaltspunkt, um Geschlecht in der Steinzeit zu untersuchen sind menschliche Darstellungen. 

In unserer neuen Reihe behandeln wir die mehrgeschlechtlichen Darstellungen des Paläolithikums.
Das Paläolithikum beschreibt den ältester Abschnitt der Steinzeit, die Altsteinzeit. Es beginnt mit den ersten Vormenschen Homo habilis und Homo rudolfensis vor ca. 2,5 Millionen und endet mit der letzten Eiszeit vor ca. 10.000 Jahre. In diesem Beitrag ist vor allem das Jungpaläolithikum, welches ca. 40.000 bis 10.000 Jahre vor Heute datiert wird, von Bedeutung.
Bei mehrgeschlechtlichen Darstellungen handelt es sich um Darstellungen, welche sowohl biologisch weibliche als auch männliche Geschlechtsmerkmale aufweisen oder auf andere Weise nicht in nur einer der beiden binären Kategorien von männlich und weiblich eingeordnet werden können. Es handelt sich um Figuren, welche Fragen über das Verständnis von Geschlecht im Paläolithikum aufwerfen und eine besondere Auseinandersetzung mit Geschlecht innerhalb der paläolithischen Kunst darstellen. 

Uns ist bewusst, wie kontrovers das Thema Geschlecht in verschiedenen Disziplinen diskutiert wird. Die folgenden Beiträge sollen daher lediglich einen Einblick geben, auf das, was bei der Analyse von paläolithischen Figurinen in Hinsicht auf das Geschlecht beachtet werden muss, welche Problematiken hierbei entstehen und schließlich welche mehrgeschlechtlichen Darstellungen es im Paläolithikum gibt. Die Artikel wurden unter anderem auf Basis der Bachelorarbeit von Marieluise Hahn unter der Betreuung von Prof. Dr. Harald Floss erstellt. 

Warum muss sich mit dem theoretischen Hintergrund von Geschlecht auch in der Archäologie des Paläolithikums beschäftigt werden? 

Bevor wir uns mit den mehrgeschlechtlichen Darstellungen an sich beschäftigen, wollen wir einen kurzen, dem Umfang entsprechend unvollständigen, Einblick in die Geschlechterforschung geben, um den theoretischen Hintergrund von Geschlecht über die Zeit hinweg zu verstehen. 

Das Thema Geschlecht lässt sich im Paläolithikum nur schwer erforschen, da materielle Hinterlassenschaften es oft nicht zulassen Aussagen über Geschlechtsidentitäten zu treffen. Wenn es Hinweise auf Geschlechtszugehörigkeit bei menschlichen Darstellungen gibt, ist es oft schwer diese, ohne den damaligen soziokulturellen Hintergrund zu verstehen und zu interpretieren. Dennoch wird Geschlecht oft als Auslöser von Interpretationen über die Bedeutung paläolithischer Darstellungen benutzt. Figuren mit Brüsten oder Vulven wurden in der Vergangenheit beispielsweise oft sexualisiert und als von Männern für Männer erschaffene Darstellungen interpretiert. Fortlaufend wurden und werden bei der Untersuchung von menschenähnlichen Darstellungen geschlechterbezogene Begriffe und Aussagen ohne den benötigten theoretischen Hintergrund verwendet. Dies ist nicht unproblematisch, da Geschlecht ein gesellschaftlich stark beeinflusster Aspekt von Identität ist und somit sehr anfällig für Vorurteile ist. Das eigene Verständnis von Geschlecht wird unreflektiert auf vergangene Gesellschaften projiziert. Gerade deswegen ist es umso wichtiger sich damit auseinanderzusetzen, woher und aus was sich das Verständnis von Geschlecht in einer Gesellschaft überhaupt zusammensetzt. Die Geschlechterforschung beschäftigt sich seit geraumer Zeit mit verschiedenen Geschlechter-relevanten Themen. Aus diesen Entwicklungen heraus bildete sich in den 1970er Jahren die sogenannte Gender Archäologie. Dieser ist zu verdanken, dass bestimmte Geschlechterrollenbilder der Vergangenheit kritisiert und widerlegt werden konnten. Auch in den letzten Jahren kann ein Aufleben an queer-feministischen Themen beobachtet werden. Dies bietet einen guten Rahmen, um gewisse Befangenheiten und Unzulänglichkeiten in der Archäologie gegenüber geschlechterbezogene Themen anzusprechen und zu überdenken. Nur wenn sich damit beschäftigt wird, wie sich unser heutiges Verständnis von Geschlecht zusammensetzt und nur wenn verstanden wird, wie sehr es auf unserer heutigen Gesellschaft beruht, kann eine fälschliche Übertragung von unseren heutigen Auffassungen auf vergangene Gesellschaften, verhindert werden.

Wie setzt sich unser heutiges Verständnis von Geschlecht zusammen? 

Dem heutigen westlichen Verständnis von Geschlecht liegen die sog. „binary binds“ (dt. binären Bande/Beschränkungen) zugrunde. Sie bestehen aus dem Sex/Gender-System und dem Zwei-Geschlechtermodell.

Das Sex/Gender-System

Das Sex/Gender-System beschreibt die Teilung zwischen dem biologisch bedingten Geschlecht (männlich/weiblich; engl.: sex) und dem kulturell bedingten Geschlecht (Mann/Frau; maskulin/feminin; engl.: gender). Im englischsprachigen Raum werden die Begriffe gender (soziales Geschlecht) und sex (biologisches Geschlecht) benutzt. Sie wurden auch im deutschsprachigen Raum, aufgrund mangelnder Übersetzung, übernommen. Die strikte Trennung von Sex und Gender wurde vor allem von frühen feministischen Wissenschaftler:innen vertreten, um aufzuzeigen, dass die ungleichen Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen nicht auf biologischen Tatsachen beruhen, sondern sozialen Ursprungs sind. Spätere Entwicklungen haben gezeigt, dass sex und gender nicht so strikt trennbar sind, wie anfangs angenommen. Die heutige Sicht auf die „binary binds“ ist sehr kritisch und zeigt, dass das zweigeschlechtliche Modell, welches in den Industriestaaten vorherrschend ist, laut welchem Gender aus binären biologischen Merkmalen bestehen muss, mittlerweile überholt ist. Diese Skepsis gegenüber den „binary binds“ ist zwar bereits in der Archäologie angekommen, blieb allerdings noch relativ folgenlos.

Das Sex/Gender-System ist sehr komplex, wobei für die Archäologie vor allem interessant ist, welche Verbindungen zwischen dem biologischen und dem sozialen Geschlecht bestehen. Das weit verbreitete Verständnis von Gender ist es, dass Gender aus den biologischen Unterschieden zwischen den Geschlechterkategorien entsteht und von den anatomischen Geschlechtsmerkmalen auf das soziale Geschlecht geschlossen werden kann, also in direkter Verbindung steht. Der Zusammenhang zwischen Sex und Gender ist allerdings sehr viel wandelbarer. Um diesen zu verstehen ist das Konzept von „Doing Gender“ von C. West und D. Zimmerman (1987) wichtig. Das Konzept zeigt wie sehr Geschlecht und die Einordnung in eine der aktuell vorherrschenden Kategorien von Außen, gesellschaftlich bedingt ist, und wie wenig es eigentlich auf physischen oder biologischen Unterschieden beruht. Allein die Geschlechtszuordnung bei Geburt stützt sich auf biologische Merkmale, während die soziale (oft Fremd-)Zuordnung im Alltag an die gesellschaftlichen Normen und Vorstellungen der jeweiligen Gesellschaft, wie zum Beispiel Kleidung und Verhalten, gebunden sind. Gender ist also keine gegebene Sache, welche sich von dem biologischen Geschlecht ableiten lässt, sondern stark an gesellschaftliche Normen gebunden. Die Merkmale und Attribute, welche einer Geschlechterkategorie zugeschrieben werden, sind sehr wandelbar und ändern sich kontinuierlich, wie auch die Gesellschaft sich ständig wandelt. Wenn man dies erkannt hat, fällt es schwer, unser heutiges Verständnis von Geschlecht und Geschlechterkategorien so leichtfertig, wie es in der Vergangenheit oft der Fall war, auf andere vergangene Gesellschaften zu übertragen. 

Die feministische Archäologie brachte den Begriff Gender als analytische Kategorie in die Archäologie, wodurch es möglich wurde das biologische und das soziokulturelle Geschlecht zu trennen. Nachdem Geschlecht demnach nicht mehr biologisch, unveränderlich und vorgegeben gesehen wurde, wurde Gender ein valider Gegenstand archäologischer Fragestellungen. Dennoch wird Gender oft als eine Ersatz für das Wort sex oder biologisches Geschlecht benutzt, ohne den Unterschied zwischen den Begriffen zu beachten und wissenschaftlich anzuwenden.

Phallisch und vulvische neolithische Figur aus Sotira-Arkolies, Zyper von hinten (a), von der Seite (b) und von oben (c) (nach Hamilton 2000, Fig. 2.5).

Das Zwei-Geschlechter Modell

Der zweite Teil der „binary binds“ ist das Zwei-Geschlechter-Modell. Es beschreibt die Annahme, dass es nur Männer oder Frauen gibt, welche grundsätzlich unterschiedlich sind. Das basiert auf der Annahme, dass die Menschheit zweigeschlechtlich organisiert ist, also weiblich oder männlich, und die körperlichen Merkmale über die Zugehörigkeit zu einem der beiden Geschlechte entscheiden. Begründet ist das im biologischen Geschlecht (sex), welches durch die Genitalien und der dazugehörigen reproduktiven Funktion definiert wird. Der Glaube, dass es zwei geschlechtliche Identitäten gibt ─ entweder männlich oder weiblich ─, welche sich aus dem biologischen Geschlecht ableiten, ist fundamental für die westliche Gesellschaft. “Westlich” meint hierbei, die Industriestaaten und Staaten welche von Patriarchat und Kapitalismus geprägt sind. Die aktuellen binären Geschlechterrollen von Mann und Frau, sowie Verhaltens- und Denkmuster werden oft als unvermeidlich und natürlich wahrgenommen und beschrieben. Dies beruht unter anderem auf der Vorstellung, dass das binäre System ein konstantes Merkmal aller Gesellschaften ist und Abweichungen davon nur Einzelfälle beschreiben. Das fällt vor allem auch in den Arbeiten über paläolithische Darstellungen auf. Hier wird ebenfalls angenommen, dass lediglich zwei Geschlechter dargestellt werden und dass es eine direkte Verbindung von biologischen Geschlechtsmerkmalen mit dem sozialen Geschlecht gibt. Es gibt jedoch zahlreiche soziale, ethnologische und archäologische Studien, die zeigen, dass diese binäre Teilung von Sex und Gender nicht in allen Gesellschaften beobachtet werden kann. Im Laufe der Geschichte gab es erhebliche Unterschiede in der Auffassung und Definition von Geschlechtsidentitäten. 

Ethnologische Untersuchungen haben gezeigt, dass die meisten menschlichen Gruppen zumindest eine Art von geschlechtlicher Aufteilung haben, welche sich auf die zwei Geschlechter männlich und weiblich bezieht. Wichtig ist hierbei, dass, wie schon öfter erwähnt, Gender und Sex nicht zwingend so stark verbunden sind, wie es in der westlichen Welt den Anschein hat. Beispiele für Sex-Gender-Abweichungen gibt es in zahlreichen Gesellschaften.

In Gesellschaften und Kulturen, in denen es mehr als zwei Geschlechterkategorien gibt, wird Geschlecht vorwiegend nicht mittels physischer, sondern anhand sozialer Merkmale festgelegt. Dies wurde vor allem bei nordamerikanischen Kulturen beobachtet. Hier bestehen teilweise sogar bis zu sieben Geschlechter, wenn man, wie bereits kritisiert, eine Einteilung in starre Kategorien vornehmen will. Eines der bekanntesten Beispiele hierfür ist das der sogenannten „Two-Spirits“ in Nordamerika. Bis in das 20. Jhd. wurden Individuen, welche diesem weit gefassten Oberbegriff angehörten, „berdaches“ genannt. Aufgrund der negativen Konnotation un der der freien Übersetzung aus dem arabischen zu “Lustknabe” wurde dieser Begriff nach zahlreicher Kritik zu „Two-Spirits“ geändert. Hierbei ist anzumerken, dass es auch innerhalb dieses Begriffes eine große Variabilität im Verständnis der Geschlechterrollen sowohl regional, wie auch unter den verschiedenen Individuen gibt. Charakterisiert werden die betreffenden Personen durch die Beobachtung des „gender mixing“. Dies ist eine Kombination des männlichen und weiblichen Geschlechterstatus, sowie der jeweiligen Rollen, wobei kein Geschlechterwechsel vorgenommen wird . Während das physische Geschlecht also feststeht, übernimmt die Person allerdings die kulturell festgelegten Verhaltensweisen und Tätigkeiten des anderen Geschlecht, wodurch ihr ein besonderer Geschlechterstatus zugeteilt wird, welchen man weder als Mann* noch als Frau* bezeichnen kann. Erst durch den Kolonialismus wurde das starre binäre Geschlechtersystem, welches ausschließlich das männliche und das weibliche Geschlecht anerkennt, zur bestimmenden Norm. re Gesellschaften übertragen werden kann, findet man allerdings genau dieses binäre Denken oft in den Untersuchungen paläolithischer Darstellungen.

We’wha, ein Two-Spirit der Zuñi (zwischen 1871 und 1896).

Die Bedeutung der Gender Archäologie

Die Bedeutung der Genderarchäologie wird klar, wenn man sich vor Augen führt, dass in der Archäologie ein wechselseitiger Bezug in der Interpretation von Gegenwart und Vergangenheit, besteht. Dies geschieht dadurch, dass die Vergangenheit regelmäßig dafür genutzt wird, soziale Zustände und Strukturen zu naturalisieren und legitimieren. Die aktuellen westlichen und binären Geschlechterrollen von männlich und weiblich, sowie Verhaltens- und Denkmuster werden als unumgänglich und naturgegeben wahrgenommen und beschrieben. Dies gründet unter anderem auf dem irrtümlichen Glauben, dass das geschlechtliche Binärsystem ein ahistorisches und gleichbleibendes Merkmal aller Gesellschaften ist und Abweichungen hiervon lediglich Einzelfälle bezeichnen. Dieser Glaube wird zu einem gewissen Grad auch durch archäologische Interpretationen am Leben gehalten. Vor allem die prähistorische Archäologie trägt dazu bei, traditionelle und patriarchale Geschlechtermodelle unserer Gesellschaft zu festigen, indem sie die Geschlechtermodelle als „ursprünglich“ und zeitlos erscheinen lässt. Doch woran lässt sich dies festmachen und begründen? In Zeiten von Wandel und Unsicherheit wird oft auf die Vergangenheit geschaut. Vor allem die Steinzeit wird als Orientierungsinstanz verwendet, eine Art „Ur-Naturzustand“, welcher dann als Referenz genutzt werden kann, um Sicherheit bei unsicheren Fragestellungen zu erhalten. Diese Vergangenheit – oft ist hierbei die Steinzeit gemeint – wird als ein Konglomerat von scheinbar archetypischen Verhältnissen wahrgenommen, bei denen kein Wandel stattfindet und die Verhältnisse klar und unveränderlich sind. Der gewissermaßen „natürlich“, „ursprüngliche“, „biologisch vorgegebene“ Urzustand ist hierbei eine normative Instanz, welche zur Legitimierung und Orientierung dient. Dadurch entwickelt sich die große gesellschaftliche Relevanz von archäologischen Interpretationen und Aussagen. Deshalb sollte die Tatsache mit Sorge betrachtet werden, dass durch Interpretationen der Archäologie, Argumente für die Untermauerung von z.B. binären Geschlechterkategorien entstehen. Denn sowohl die Vergangenheit wie auch die Gegenwart haben gezeigt, dass es strukturelle Gewalt gegen Menschen gibt, welche nicht mit den Geschlechternormen des jeweilig vorherrschenden Systems übereinstimmen. Die Archäologie sollte daher bedacht und vorausschauend mit Interpretationen und Aussagen umgehen, für die es keine wissenschaftlichen Belege gibt, um die Legitimierung dieser oft schädlichen und teilweise in Gewalt endenden Geschlechtermodelle nicht zu unterstützen.

Was bedeuten diese theoretischen Überlegungen für die Analyse von paläolithischen Menschendarstellungen?

Wie erörtert wurde, kann von dem biologischen Geschlecht, wenn man die Aufteilung in sex und gender vornehmen will, nicht auf das soziokulturelle Geschlecht geschlossen werden. Für paläolithische Darstellungen bedeutet dies, dass von äußerlichen Geschlechtsmerkmalen nicht darauf geschlossen werden kann, ob es sich um eine abgebildete Frau oder einen Mann handelt, da nicht klar ist welche Rolle Geschlecht in den damaligen Gesellschaften spielte und wie es aufgefasst wurde. Außerdem kann davon ausgegangen werden, dass es in der lange Zeitspanne der Vergangenheit nicht nur zwei Geschlechter gab. Wie bereits erwähnt, zeigen ethnologische und archäologische Untersuchungen, dass es Geschlecht nicht in allen Gesellschaften in weiblich und männlich aufgeteilt wurde und dass sowohl sex, als auch gender unterschiedliche Rollen spielte. 

Griechische neolithische zweigeschlechtliche Sesklo Figur (nach Hamilton 2000, Fig. 2.4).

Das bedeutet für die Untersuchung von menschlichen Darstellungen im Paläolithikum, dass geschlechtliche Zuweisung nur mit äußerster Vorsicht getroffen werden sollten und unser heutiges Verständnis von Geschlecht nicht auf das Paläolithikum übertragen werden kann. Das Verständnis und der Umgang mit Geschlecht ist stark an die jeweilige Gesellschaft gebunden und zeigt eine sehr große Variabilität auf. Für die mehrgeschlechtlichen Darstellungen des Paläolithikums heißt das demnach, dass die biologischen Geschlechtsmerkmale zwar als analytische Einheiten verwendet werden können, Interpretationen oder Schlüsse auf das soziale Geschlecht allerdings nicht unüberlegt gezogen werden sollten.

Im zweiten Teil unserer Reihe werden wir näher auf die geschlechtliche Zuordnung von Figuren eingehen, sowie die Problematik von Begriffen wie “Venus”, “zweigeschlechtlich” oder “Drittes Geschlecht” und die Frage, ob die meisten paläolithischen Figuren weiblich sind, diskutieren.

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