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Einleitung
Wenn man auf Google Docs „Matriarchat“ schreiben möchte, wird dies oft automatisch zu „Patriarchat“ korrigiert. Das mag fast ironisch wirken, zeigt aber auch, wie tief patriarchale Strukturen in der Sprache und unserem Denken verankert sind. Und wenig erhitzt die Gemüter so, wie die Diskussion um Geschlechterverhältnisse. Auch die Auseinandersetzungen mit dem Matriarchat dauern mittlerweile über ein Jahrhundert an. Das Matriarchat wird hierbei häufig als frühe Gesellschaftsform verstanden, in der Frauen eine Vormachtstellung in sozialen, religiösen und familiären Bereichen innehatten. Vereinfacht gesagt geht die Matriarchatstheorie davon aus, dass es in der Urgeschichte ein Matriarchat gab, welches vom Patriarchat abgelöst wurde.
Warum beschäftigen wir uns damit? Eine Rolle spielt die Matriarchatstheorie heute vor allem im spirituellen Feminismus und damit in vielen esoterischen oder “naturverbundenen” Gruppen. Aber auch unterschiedlichste politische Gruppierungen und Einzelpersonen sind von der Matriarchatstheorie bewegt und inspiriert. Dabei werden oft archäologische Funde und Befunde als Argumente für das Matriarchat in der Urgeschichte herangezogen. Das Thema betrifft also nicht nur Gesellschaft und Politik, sondern in erster Linie auch die Archäologie. Obwohl die Matriarchatstheorie bereits im 19. Jahrhundert entstand, taucht auch heute noch in verschiedenen politischen Strömungen und Gruppen der Gesellschaft, auf Blogs oder in Social Media Content auf (Beispiele siehe unten 1). Daher haben wir beschlossen, uns in einer neuen Beitragsreihe genau damit auseinanderzusetzen.
Immer wieder stoßen auch wir auf Inhalte, die ein Matriarchat in der Vergangenheit sehen wollen. Vor allem in feministischen Kreisen ist die Vorstellung, es habe in der Vergangenheit ein Matriarchat gegeben, ein wichtiger Ankerpunkt, der zu sagen scheint: “Es war nicht immer so”. Dies ist eng geknüpft an die Hypothese der sogenannten “Friedlichen Urgesellschaft”, welche ebenfalls eine lange Geschichte hat und im Laufe der Zeit oft diskutiert wurde. Hierzu aber später mehr. Oft weisen diese Argumentationslinien, vor allem aus archäologischer Sicht, Schwächen auf. Wie so oft verrät die Interpretation der Funde und Befunde mehr über die Wünsche und Hoffnungen der Menschen im Hier und Jetzt als über die Vergangenheit. Auch in der archäologischen Ideengeschichte sehen wir diese Tendenzen vor allem in den letzten Jahrzehnten, aber auch heute. In die Vergangenheit wird projiziert, was man sich in der Gegenwart wünscht oder wie man sich die Gegenwart am besten erklären kann.
Dazu kommt, dass das Thema der Matriarchatstheorie und Forschung sehr komplex und fast endlos ist. Es gibt nicht ein einzelnes Themenfeld, das einfach abgearbeitet werden könnte. Denn es geht hier nicht nur um das Matriarchat an sich, Rollenbilder oder Geschlechterverhältnisse. Es geht auch um alle Themen und Diskussionspunkte, die damit verbunden sind. Dabei können wir auch als Archäolog*innen nicht nur in der Vorgeschichte bleiben. Denn bei der Matriarchatsdebatte geht es vor allem um politische Einstellungen rund um die Frage, wie wir Gesellschaften betrachten, verstehen und interpretieren, in der Vergangenheit und in der Gegenwart und vor allem, was wir uns für die Zukunft wünschen. Mit den folgenden Beiträgen wollen wir also ganz unterschiedliche Aspekte beleuchten.
Wie wird das ablaufen? Wir wollen die Argumente, die für ein Matriarchat in der Urgeschichte herangezogen werden, aus archäologischer Sicht kritisch beleuchten. Zusätzlich wollen wir auch die Verwendung der Matriarchatstheorie in linken und emanzipatorischen Strukturen reflektieren, da das für uns als Gruppe einen Schnittpunkt darstellt. Hierfür werden wir die verschiedenen Themen in unterschiedliche Beiträge aufteilen:
Im ersten Beitrag erklären wir erst einmal, was das Matriarchat eigentlich bedeutet, wie es im Laufe der Zeit verstanden wurde und wie es überhaupt zu dieser Theorie gekommen ist. Es soll auch darum gehen, wie diese Idee mit der Theorie des Urkommunismus oder der friedlichen Urgesellschaft verbunden ist. Darüber hinaus, wie die Matriarchatstheorie in völkischen und faschistischen Ideologien verstanden wurde und schließlich ihre Rolle im Nationalsozialismus. Nicht zuletzt wird die Debatte und Auswirkungen auf die 2. Welle des Feminismus betrachtet.
Im zweiten Beitrag wollen wir der Frage nach dem Matriarchat in der Urgeschichte archäologisch nachgehen. Können matriarchale Gesellschaften in der Ur- und Frühgeschichte archäologisch nachgewiesen werden? Andersherum lässt sich ebenso fragen, inwieweit die archäologischen Zeugnisse auf patriarchale Strukturen hinweisen? Wir wollen aufzeigen, welche archäologischen Methoden es gibt, sich diesen Fragen wissenschaftlich zu nähern. Wie lassen sich Funde und Befunde unterschiedlich interpretieren? Was sagt das über uns selbst und über die Vergangenheit aus? Dies soll an einigen Fallbeispielen verdeutlicht werden.
Im dritten Beitrag gehen wir auf die Matriarchatstheorie im Heute ein und machen unsere Sicht auf die Diskussion zur Matriarchatstheorie deutlich. Grund hierfür ist, dass uns einige Aspekte der Diskussion problematisch erscheinen und dem Feminismus, sowie dem Kampf gegen das Patriarchat manchmal mehr schaden als helfen. Inwieweit nutzt es uns als Feminist*innen, uns auf ein Matriarchat zu beziehen? Wozu ist die Suche nach einer frühen Existenz des Matriarchats sinnvoll?
Die gesamte Thematik, die verschiedenen Verständnisse der Begriffe und die Geschichte der Diskussion ist sehr komplex, sodass wir in diesen Beiträgen nur einen kleinen Ausschnitt davon behandeln können. Deswegen empfehlen wir darüber hinaus das Buch “Göttinnendämmerung” von Brigitte Röder, Juliane Hummel und Brigitta Kunz (folgend Röder u. a. 2001), welches uns als wichtige Grundlage für viele der Kapitel zum Kontext und der Geschichte des Begriffs gedient hat und uns für eigene Analysen weiterhalf. Wir finden eine Auseinandersetzung mit diesem Thema wichtig, da in dieser Hinsicht nicht nur die Gesellschaft, sondern auch Feminist*innen gespalten scheinen.
Nicht zuletzt sind wir gespannt auf eure Anregungen und die Diskussionen mit euch, schreib uns gerne eine Mail, in die Kommentare oder auf den Sozialen Medien.
- www.doriswolf.com; https://www.womenbodiment.com/de/goddess; https://www.instagram.com/p/C9UD_yrsY-F/; https://www.goettinnen-konferenz.de; https://www.matriarchiv.ch/matriarchatsforschung/geschichte-und-forschung/; https://matriarchatsforschung.com/einfuehrung-und-definition; https://hagia.de/matriarchat/entstehung-des-patriarchats; https://www.instagram.com/p/CHFavyfHHgA/; https://www.geschichtsforum.de/thema/matriarchat.6849/; https://www.institut-matriarchatswissen.de/; http://www.goettin-holle.de/Frau-Holle-Ursprung-Namensvarianten.html, https://akademie.coaching-spirale.com/online-ausbildung; http://www.youtube.com/@matriwissen3916; https://www.anarchismus.de/blog/theorie/kritik-am-patriarchat;Brauchen wir mehr Matriarchat? | 42 – Die Antwort auf fast alles | ARTE ↩︎
Hey, das klingt superspannend, freue mich auf alle Beiträge! Eine Frage: Ihr empfiehlt als Grundlage das Buch von Roeder etc, das stammt ja schon von 1996 und spiegelt den damaligen Erkenntnisstand wieder. Inzwischen ist ja doch sehr viel passiert, zum Beispiel in Catalhöyük, und vor allem in der Archäogenetik, wie seht ihr das? Herzliche Grüße Kathrin
Liebe Kathrin,
Danke für deine Nachricht!
Du hast Recht, das Buch hat inzwischen schon ein paar Jahre auf dem Buckel.
Wir finden, dass es inhaltlich aber trotzdem noch ziemlich aktuell ist und sich im Diskurs in den letzten Jahren nicht mehr viel verändert hat.
Auch beziehen wir uns vor allem in der Einführung und in unserem Teil zur Geschichte der Matriarchatsforschung auf „Göttinnendämmerung“ und da liefert es einen sehr umfangreichen Einblick.
Auf Catalhöyük und die Archäogenetik werden wir in einem späteren Teil über die archäologischen Befunde noch eingehen.
Liebe Grüße!
Danke dir, bin sehr gespannt auf eure Beiträge. Liebe Grüße