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Rezension zu „Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte“ von Ulli Lust

Wir wurden vor einiger Zeit angefragt eine Rezension zum Sachcomic „Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte“ von Ulli Lust zu schreiben. Erstveröffentlichung und Redaktion stammt vom blog interdisziplinäre geschlechterforschung. Schaut gerne auch mal in die anderen Beiträge dort, sehr interessant!

Zitation: Kollektiv Anarchäologie: Das Ende der Scham: „Die Frau als Mensch“ von Ulli Lust, in: blog interdisziplinäre geschlechterforschung, 12.08.2025, www.gender-blog.de/beitrag/frau-als-mensch-lust/, DOI: https://doi.org/10.17185/gender/20250812

Das Ende der Scham

Eine leuchtend rote Vulva markiert den Eingang zu einer paläolithischen Höhle und
eröffnet den Blick in die Welt der Steinzeit aus weiblicher Perspektive. Ulli Lust nimmt in
ihrem neuen Sachcomic „Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte“ die Anfänge der Menschheitsgeschichte unter die Lupe. Sie sucht nach Antworten auf die großen Fragen
rund um die Menschwerdung, die Rolle der Frauen in der Vorgeschichte und die
gesellschaftlichen Hierarchien. Dafür nutzt sie einen großen Schatz an archäologischen
Quellen aus der frühen Steinzeit sowie ethnologischen Beispielen aus der ganzen Welt. Die
Frau steht im Zentrum ihrer Geschichte, womit der patriarchalen Forschungstradition
etwas entgegengesetzt wird.

Wann kam die Scham?

Nach einem kurzen autobiografischen Einstieg stellt Ulli Lust sich die Frage, warum
weibliche Körper seit der Antike oft bedeckt oder schamhaft dargestellt werden. Denn
paläolithische Figurinen zeigen nackte Frauen in selbstbewussten Posen. Was bedeutet
dies für gesellschaftliche Rollen und Normen und das Frauenbild der Vorgeschichte?

Ein Großteil der paläolithischen Figurinen, die eindeutig einem Geschlecht zugeordnet
werden können, sind tatsächlich weiblich. Aber die geschlechtliche Zuordnung von
menschlichen Darstellungen in der Altsteinzeit ist komplex. Die Anzahl der Darstellungen,
die männlich sind, keinem Geschlecht zugeordnet werden können oder mehrgeschlechtlich
interpretiert werden, ist höher als meist angenommen. Gleichzeitig werden sie häufig
vernachlässigt und finden bei Interpretationen über die weiblichen Darstellungen oft keine
Beachtung (Hahn 2025; Anarchäologie 2022). Wenn man sich also die Frage stellt, wann
und wie es passieren konnte, dass weibliche Körper mit Scham behaftet wurden, dann
sollten auch die geschlechtslosen und mehrgeschlechtlichen Darstellungen berücksichtigt
werden. Denn intergeschlechtliche oder geschlechtslose Körper werden auch heutzutage
oft unsichtbar gemacht.

Von Menschen und anderen Primaten

Um sich den Hauptfragen zu nähern, beginnt die Autorin am Anfang – noch vor den ersten
Menschen. Sie betrachtet die unterschiedlichen Sozialstrukturen unserer nächsten
Verwandten – Gibbons, Schimpansen und Bonobos. Dabei zeigt sie, dass wir Menschen
irgendwo zwischen den eher patriarchal organisierten Schimpansen und den
friedliebenden Bonobos stehen, die sich, um Konflikte zu lösen, gegenseitig sexuell
befriedigen.

Ulli Lust räumt mit dem Klischee der ersten Menschen als gewalttätige und egoistische
Wilde auf. Vielmehr liege die Grundlage des menschlichen Seins in sozialen Bindungen,
Empathie und Kooperation. Eigenschaften, die unerlässlich sind, um Menschenkinder
großzuziehen und so das Überleben der Gruppe zu sichern. Ulli Lust bietet damit einen
Gegenentwurf zu den sozialdarwinistischen Mythen, die leider aktuell wieder mehr
Anhänger*innen gewinnen.

Die erfolgreichste Wirtschaftsform der Welt

Wenn es um das Leben der ersten Menschen geht, geht es automatisch auch um deren
Subsistenzwirtschaft – das Jagen und Sammeln. Die Autorin beschreibt hierfür das Leben
heutiger Wildbeutergruppen und zeigt auch die aktuelle politische Lage am Beispiel der
Khoisan, die systematisch unterdrückt und verdrängt werden. Diese werden im Buch,
aufgrund ihres Erbguts und der nicht-sesshaften Lebensweise, als direkte Nachfahren der
ersten Menschen gesehen. Heutige Wildbeutergesellschaften erlauben uns Einblicke in das
Leben der Steinzeit und bieten spannende Ideen und Anregungen für die Interpretation
vorgeschichtlicher Gesellschaften. Allerdings darf dies nie eins zu eins auf die
Vergangenheit übertragen werden. Eine kritische Einordnung der ethnologischen
Vergleiche bringt Ulli Lust selbst an, denn

„Beispiele aus der Ethnologie sind naturgemäß
jüngeren Datums. Sie können nicht einfach auf die Gesellschaften der Eiszeit übertragen
werden. Sie sollen Denkanstöße liefern”
.

(Ulii Lust 2025, S. 213).

Hervorzuheben sind auch die Darstellungen von Frauen bei der Jagd. Das Klischee, dass
nur Männer gejagt haben, ist zwar schon lange veraltet, es bleibt aber trotzdem wichtig,
dieses Thema anzusprechen. Denn damit geht auch die Vorstellung einher, dass Frauen
Männern von Natur aus körperlich unterlegen seien und daher nicht für die Jagd geeignet
wären. Diesem falschen Narrativ setzt Ulli Lust neben archäologischen Befunden auch
ethnologische Beispiele entgegen, in denen Frauen entweder besondere Rollen bei der
Jagd einnehmen oder mit ihren männlichen Jagdpartnern gleichberechtigt sind. So lässt
sich auch verschmerzen, dass wenig auf andere Methoden der Nahrungsbeschaffung
eingegangen wird, die je nach Region und Zeit variieren können und häufig zentraler
Bestandteil der Subsistenz sind.

Der weibliche Schamanismus – älter als der männliche?

Neben einem Kapitel zur Kunst der Eiszeit und der Bedeutung von rotem Ocker, u. a. im
Zusammenhang mit paläolithischen Bestattungen, wird der Idee der weiblichen Schamanin
als zentrales Mitglied der Gesellschaft viel Raum gegeben. Es gäbe sogar Indizien, die
zeigten, „[der] weibliche Schamanismus könnte durchaus älter sein, als der männliche“ (S.177). Allerdings sind typisch weibliche Zuschreibungen wie Natürlichkeit und
Naturverbundenheit sowie weiblicher Schamanismus, wie sie zum Teil im Buch dargestellt
werden, auch Stereotype unserer Zeit. In der Archäologie werden dadurch oft
herausragende weibliche Bestattungen als Schamaninnen interpretiert, während
männliche Äquivalente meist mit politischer oder allumfassender Macht assoziiert werden.
Das Bild der Schamanin stammt aus einer Zeit, in der man sich keine andere
herausragende Position für eine Frau in der Gesellschaft vorstellen konnte – schon gar
keine politische. Aus archäologischer Sicht ist die Frage, wer zuerst Schamanismus
betrieb, aktuell nicht klar zu beantworten.

Das biologische Geschlecht als Spektrum

Im Kontext des Schamanismus erwähnt die Autorin außerdem eine Bestattung, welche bei
der biologischen Geschlechtsbestimmung anhand der Knochen weder als eindeutig
männlich noch weiblich zugeordnet werden konnte. Daher wird sie von Ulli Lust als
nichtbinär interpretiert und mit Schamanismus in Verbindung gebracht (S. 183). Es kommt
aber erstens relativ häufig vor, dass menschliche Skelette männliche und weibliche
Attribute aufweisen (die Autorin führt selbst einige Beispiele von weiblichen Bestattungen
an, die aufgrund einer kräftigen Statur lange als männlich interpretiert wurden). Und
zweitens wird dabei übergangen, dass das biologische Geschlecht der bestatteten Person
eindeutig männlich ist, denn DNA-Analysen der Knochen erbrachten dieses Ergebnis
(Mittnik et al. 2016).

Tatsächlich muss an dieser Stelle zwischen dem biologischen und dem sozialen Geschlecht
unterschieden werden. Der Knochenbau allein kann wenig über Gender (also das soziale
Geschlecht) verraten, und Unsicherheiten bei der Geschlechtszuordnung sind nicht
gleichbedeutend mit Nichtbinarität.

Es zeigt sich dadurch vielmehr, dass auch das
biologische Geschlecht als ein Spektrum zu begreifen ist.

Generell ist Vorsicht geboten, nichtbinären Personen eine gesonderte kultische Rolle zuzuschreiben. Damit wird zwar anerkannt, dass die Vorstellung von Geschlecht in der Vorgeschichte nicht unbedingt binär war, allerdings impliziert es auch eine „Abweichung von der Norm“ – und wir können die Normen der Vorgeschichte nur erahnen.

Eine feministische Deutung der Menschheitsgeschichte

Ulli Lust schreibt ihr Buch aus weiblicher Perspektive. Sie verirrt sich dabei aber nicht in
wissenschaftlich überholten Matriarchatstheorien, sondern schafft eine feministische
Deutung der Menschheitsgeschichte auf Grundlage aktueller wissenschaftlicher
Erkenntnisse. Sie erzählt und bebildert sachlich, aber gleichzeitig mit Empathie und Witz.
Durch ihre warmherzige Erzählweise und die künstlerische Gestaltung gelingt es der
Autorin, eine spürbare Nähe zu den Menschen in der Vorgeschichte herzustellen. Sie bricht
alte Narrative auf und erzeugt neue Räume für Debatten, auf die Interessierte und auch
Archäolog*innen in Zukunft aufbauen können.

Zwar müssen einige Interpretationen zur Bedeutung der Frauenrolle im Paläolithikum und der Binaritäten kritisch hinterfragt werden, an der einen oder anderen Stelle fehlt eine kritische Einordnung der ethnologischen Beispiele und ein Bezug zu archäologischen Quellen, dennoch zeichnet die Autorin ein weitaus reflektierteres Bild vom Leben in der Vorgeschichte, als so manche Archäolog*innen.

Literatur

Anarchäologie (2022): Mehrgeschlechtliche Darstellungen im Paläolithikum (Teil II), in: blog Anarchäologie, 18.04.2022, www.anarchaeologie.de/2022/04/25/mehrgeschlechtliche-darstellungen-im-palaeolithikum-teil-ii/

Hahn, Marieluise (2025): Darstellungen von männlichen Geschlechtsmerkmalen in der altsteinzeitlichen Kunst, in: blog interdisziplinäregeschlechterforschung, 24.06.2025. https://doi.org/10.17185/gender/20250624

Mittnik, Alissa; Wang, Chuan-Chao; Svoboda, Jiří & Krause, Johannes (2016): A Molecular Approach to the Sexing of the Triple Burial at the Upper Paleolithic Site of Dolní Věstonice, PLoS ONE 11(10): e0163019. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0163019

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